Kintsugi – oder auch: Good Damage

20.03.2020

Photo by: Amazing Zone

Ich habe kürzlich die Folge „Good Damage“ von BoJack Horseman, einer Netflix-Serie, gesehen und mich danach entschieden, diesen Artikel zu schreiben.

Zunächst als kleine Einleitung, was es mit diesem Titel auf sich hat:
Nach Wikipedia: Kintsugi (jap. 金継ぎ, dt. „Goldverbindung, -flicken“) oder seltener Kintsukuroi (金繕い, „Goldreparatur“)[1] ist eine traditionelle japanische Reparaturmethode für Keramik. Keramik- oder Porzellanbruchstücke werden mit Urushi-Lack geklebt, fehlende Scherben werden mit einer in mehreren Schichten aufgetragenen Urushi-Kittmasse ergänzt, in die feinstes Pulvergold oder andere Metalle wie Silber und Platin[1] eingestreut wird

  Die Einfachheit und die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit stehen im Zentrum dieser Anschauung. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich Kintsugi – die Goldverbindung, die den Makel hervorhebt.“

Und dann zum eigentlichen Text:

Letztes Jahr im September 2019 habe ich mir den linken Oberarm gebrochen. Erstmal keine wirklich große Sache, wenn ich daran denke, wie sich andere Leute Gelenkschäden zuziehen und da – wie sagt man so schön – „Noch ewig was von haben!“

Trotz allem war dieser Unfall für mich keine einfache Sache, da ich selbstständig bin und mich zunächst einmal fragen musste: Wie zum Henker soll ich das in den nächsten Wochen wuppen? Mit einem Arm? Kann ich weiterhin auf ESL-Events fahren, zum Arbeiten? Wie bekomme ich den Arm wieder fit?

Dann waren viele schlaflose Nächte auf dem Plan. Nicht nur wegen den starken Schmerzen, sondern weil ich mir einfach nicht sicher war, wie es weitergehen soll. So eine  „Zwangspause“ macht viel mit einem – auch psychisch. Ganz unabhängig davon, ob man selbstständig ist oder nicht. Und ich bin ganz ehrlich, die Nachricht im Briefkasten am Folgetag, dass ich mich bitte bei der zuständigen Reha-Einrichtung melden solle, hat mich kein Stück aufgefangen. Am Telefon wurde mir erklärt, dass ich eine Reha nicht verkürzen kann. Auf meine Nachfrage, wie ich dann in 3 Wochen ein Event in Hamburg wahrnehmen könne, wenn ich jeden Tag in der Reha anwesend sein müsse, wurde mir entgegnet, dass die Gesundheit jetzt absolut Vorrang habe.

„Natürlich“, habe ich da gesagt „aber ich verdiene kein Geld, wenn ich meine Jobs nicht wahrnehmen kann – ich weiß nicht, wie ich das machen soll. 4 Tage die Woche den ganzen Tag im Wiederaufbau – wer kümmert sich um meine Kunden? Wie soll ich dann meine Miete zahlen, wenn ich einen Monat ausfalle? Wissen Sie, es ist ja schon das letzte Quartal und ich habe noch 2 sehr große, wichtige Anfragen, die ich …“ – „Wie gesagt“, erklang es dann am anderen Ende der Leitung „SIE müssen wissen, wie sehr Ihnen ihre Gesundheit am Herzen liegt.“

Dann war erstmal Leere im Gehirn.

Ich bin jemand, der sehr viel nachdenkt. In diesem Moment habe ich jede  Entscheidung hinterfragt, die ich jemals getroffen habe. „Wie doll mir meine Gesundheit am Herzen liegt.“ – Mhh.

„Wie sehr liegt Ihnen Ihre Existenz am Herzen?“ hat mich mein Orthopäde dann am nächsten Tag gefragt „das ist die richtige Frage. Sie sollten keine Reha machen, wenn Sie sich sowieso nicht auf Ihre Genesung konzentrieren können. Es gibt andere Wege, wir bekommen das auch mit Physiotherapie hin. Wissen
Sie, natürlich ist eine Reha der beste Weg, auf konzentrierte Weise gute Ergebnisse in der Genesung zu erzielen. Aber ich habe, genau wie Sie, keine Ahnung, wie Selbstständige das händeln sollen.  Es sei denn natürlich, Sie haben extrem gute Rücklagen und sind sehr reich. Sind Sie sehr reich?“ „Nein.“ „Okay, dann ist
hier Ihr erstes Rezept für  Krankengymnastik. Wenn Sie mit den Anwendungen durch sind, kommen Sie zur Kontrolle wieder.“

Leichtes Schmunzeln von Ihm, leichtes Schmunzeln von mir. Dankeschön. Bitteschön.

Motivation kommt und geht in Schüben. Das kennt wahrscheinlich jeder, der diesen Text hier liest. Ob es beim Lernen ist, beim Sportmachen – oder eben beim Um-Sich-Selbst-Kümmern. Man hat gute Tage, man hat schlechte. Der Tag beim Orthopäden war ein guter. Bis zu dem Moment, wo ich eine  Physiotherapieeinrichtung in der Nähe angerufen haben. „Gerne behandeln wir Sie. Sie sollen 2 mal die Woche kommen, korrekt?“ „Ja, so gut es eben
möglich ist, hat mein Arzt gesagt.“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich bin selbstständig“, quetsche ich heraus „manchmal etwas spontan mit meinen Terminen, wissen Sie.“ Kurzes Schweigen. „Also, Sie sollten das schon ernst nehmen. Wenn im Rezept 2 Mal die Woche steht, dann machen Sie bitte auch 2 mal die Woche einen Termin. Wir können Sie jeweils Dienstag und Freitag um 9Uhr behandeln.“ „Diesen Freitag kann ich leider erst ab 13 Uhr, ich habe morgens noch ein Meeting.“ „Und wie kommen Sie da hin?“ „Meine Schwester fährt mich, die hat Ferien“, sage ich. Wieder kurzes Schweigen auf der anderen Seite.

„Aha. Also, Frau Katzer. Ich glaube nicht, dass wir so flexibel sein können, wenn Ihnen Ihre Genesung am Herzen liegt.“

„Ich glaube, dann muss ich mir eine andere Praxis suchen.“

„Ja, wahrscheinlich. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“

Auflegen. Motivation: Tschüss.

„Verfickte Scheiße.“, denke ich mir und starre an die Decke. Was mache ich hier eigentlich? Dann folgte sehr lange Nichts, was ich gedacht habe. Dann habe ich viel darüber nachgedacht, ob ich zu blöd bin, die richtigen Prioritäten zu setzen. Dann habe ich darüber nachgedacht, wie viele Leute mir immer sagen, was für eine Kämpfernatur ich doch bin.

Und dann bin ich ins Bett gegangen und habe geheult. Um 15 Uhr am Nachmittag. Bis ca. 18 Uhr.

Die Hüserpraxis (kennt bestimmt der ein oder andere, weil ich oft schon für die Eva Hüser Physiotherapieschule/Praxis gearbeitet habe und hier Projekte veröffentlicht habe) hatte ich direkt nach meinem Bruch schon auf dem Schirm. Aber durch die Einschränkung und das Autofahr-Verbot war die Praxis zunächst leider keine Option für mich. 25 Minuten sind es von mir mit dem Auto bis nach BadLaer. Aber wer fährt mich? Kann ich andere Leute damit belasten? Oh Gott man, ich will doch niemandem zur Last fallen! – und dann plötzlich der Gedanke:

Vielleicht tust du das ja gar nicht, Marie. Vielleicht rufst du einfach erstmal in Bad Laer an. Und dann kannst du dir immernoch überlegen, ob du mit Taxi fährst, weil du so bescheuert bist, dass du dich gerade dafür schämst, um Hilfe zu bitten.

Und so, wie ich eben alle Mitarbeiter in der Praxis schon kenne, habe ich genau das gehört, was ich erwartet habe. „Wir bestimmen die Termine so, wie es dir passt. Wir schaffen das schon, Marie. Das kriegen wir zusammen hin.“ Direktes Durchatmen. Sich aufgehoben und unterstützt fühlen. Obwohl mein gesamtes Umfeld mir in den Vorwochen geholfen hat, wo es eben ging, hatte ich hier das erste Mal wieder ein Gefühl von Sicherheit.
„Das macht ein Arm-Bruch mit dir, Marie“, denke ich. „Undankbar bist du. Und völlig negativ.“

Und wie bereits oben geschrieben, kommen und gehen Gefühle in Schüben. Und obwohl das hier ein gutes Gefühl war, konnte ich nicht davon ablassen mich schlecht zu fühlen.

Die Physiotherapie bei Julia in der Hüserpraxis war ein Segen. Ich konnte merklich spüren, wie sich mein Arm mit jeder Anwendung erholt hat. Ich habe Hamburg mit nur einem Arm gemeistert (danke an die ESL für das Vertrauen, mich trotz 50% Körperkraft trotzdem zum Event mitzunehmen). In Hamburg habe ich mir dann 2x Physiotherapie auf das Hotelzimmer bestellt – dank Julia Krüger (hehe witzig, fällt mir jetzt erst auf, dass ich ununterbrochen in guten Julia-Händen war), hatte ich das Gefühl am Ball zu bleiben und so war es absolut klar, das meine Röntgenbilder direkt vor dem Abflug zu einem Event in Peking im November „mehr als gut“ aussehen würden.

Der Bruch war wie weggezaubert – dass es ihn mal gab sieht man nur, weil ca. 100kg Metall in meinem Arm stecken und an den Narben, die das Gesicht von Prinzessin Leia auf meinem Oberarm jetzt nur noch etwas interessanter machen.

Die Folgewochen verliefen deshalb blendend. Jeder Termin hat mich ein riesiges Stück nach vorne gebracht und heute fällt mir auf, während ich jetzt hier am Rechner sitze, wie ich immer häufiger vergesse, dass ich den Arm mal nicht richtig belasten konnte.
Durch das Gefühl, wegen Termin-Verschiebungen oder manchmal spontanen Fragen nach Zusatzterminen nicht verurteilt zu werden, verlief die Heilung glaube ich doppelt so schnell.

Es ist erstaunlich, was das Gemüt dazu beiträgt, wenn man angeschlagen ist. Es ist erstaunlich, wie wichtig es ist, mit Menschen auf einer Wellenlänge zu sein – in jeder Form des Zusammentreffens, wo auch immer. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich Menschen Fälle bewerten.

Und es ist erstaunlich, dass ich mich stärker fühle. Obwohl ich zwischenzeitlich so unfassbar schwach war. In der jetzigen Zeit, wo Arztpraxen und Physiotherapeuten
immer noch aktiv sind, uns allen zu helfen und uns zu unterstützen wird mir auch nochmal klar wie wichtig es ist, jede Situation einzeln zu bewerten. Diese
Handlungsunfähigkeit und Angst, die ich in der Zeit des Bruchs empfunden habe, herrscht im Moment mit großer Wahrscheinlichkeit in den Köpfen von fast allen
Unternehmer*innen im kleinen oder größeren Stil.

Es ist egal, was Sie tun oder welche Entscheidungen Sie treffen:
Sie verdienen Support und Verständnis von uns allen. Denn das hat jeder von ihnen immer auch für uns.

(Und btw.: Wem nützen diese ganzen schlauen Ratschläge, dass man einfach mal wieder die Zeit nutzen könne, sich um sich selbst zu kümmern. Oder etwas zu machen, was man immer schon mal machen wollte? Verdammte Scheiße, man hat grade echt anderes im Kopf, als sich um sich selbst zu kümmern, wenn man nicht weiß, ob man morgen noch die Türen offen halten darf, um Menschen zu helfen, die Schmerzen erleiden. Diese komischen Feelgood-Scheiß-Tips. Die greifen vielleicht bei Euch, die ihr mit eurem Gehalt zu Hause sitzen könnt. Wo es einfach weiterfließt. Wenn ich noch einmal höre „Das wird schon alles. Ich habe gelesen, dass alle Veranstalter bald voll viel Geld kriegen und kleine Praxen voll viel Support und Einzelunternehmer voll viel Geld. Das soll kommen, sagen alle – auch der WhatsApp-Kettenbrief, den ich dir hier gerade weiterleite mit dem Schmetterling, der singt“ – dann )

Ok Marie, beruhige dich. 


Wenn ich mir meine „Schale“ anschaue, dann ist das schon ein ordentlich zerklopptes Ding, mit einer ganzen Menge Risse. Je mehr ich mich darauf einlasse das anzunehmen, umso schöner wird sie jeden fucking Tag. Klar, mehr Risse. Aber auch mehr Gold. Und was glitzert ist gut. Das wissen wir alle.

Was ich mit dieser Geschichte eigentlich nur sagen will:
Jeder Mensch hat sein Kintsugi schon hinter sich – manch einer bewusst, der andere vielleicht unbewusst – und sowas sollte man niemals vergessen und unterschätzen. Egal, welchen Kommentar man im Gespräch lapidar fallen lässt, weil man nicht darüber nachdenkt. Egal, an welcher Seite des Hörers man sitzt und wen man sich gegenüber hat. Und ganz egal, wie man sich gerade selber fühlt. #supportyourlocalheros

https://www.instagram.com/p/B9ek3XVnVbe/

Achja: Hört auf in Cafés zu gehen und Euch im Park zu besaufen, ihr Kacknacken da draußen. Ihr seid der Grund, warum das hier alles länger dauert und immer mehr kleine Unternehmen schlucken wird und ich gerne Kintsugi in euer Gesicht machen würde – nur ohne das Gold. Also nur Risse aka Schmerzen. #staythefuckathome